Was wäre, wenn…

Über Adorno, die Liebe, die Utopie und die Schulgemeinschaft am FEG

von Jürgen Baltrusch

Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno hat nach 1945 gesellschaftspolitisch wichtige Arbeit geleistet, in dem er zum Beispiel rechtsradikale Tendenzen in Deutschland untersuchte. Des Weiteren ist er bekannt für seine Arbeit mit Max Horkheimer an der „Negativen Dialektik“.

Weniger bekannt hingegen sind seine Radiogespräche mit Hellmut Becker aus den Jahren 1959 bis 1969, in denen er sich mit dem Lehrberuf und der „Erziehung nach 1945“ auseinandersetzt. Hierbei orientiert er sich an dem Mündigkeitsbegriff nach Kant und plädiert für die Mündigkeit als Ziel jeglicher Erziehung.

Was wäre, wenn… Einladung zur Utopie am FEG 2021

Er selber war gegen die Veröffentlichung dieser Gespräche als Schriften, was, wie sich zeigte, ein fataler Fehler gewesen wäre, denn sie schneiden Themen an, für die das Feld der Didaktik Jahre gebraucht hat, um sie zu rezipieren. Adorno gibt nicht vor, eine konkrete didaktische Theorie auszuarbeiten, doch seine Umrisse einer Erziehung sind heutzutage, in Zeiten von neu aufkommenden, radikalpopulistischen Strömungen und einer Pandemie, die die globale Gesellschaft erschüttert, mehr von Bedeutung denn je.

Außerdem eröffnet Adorno die Diskussion über einen elementaren Bestandteil der Bildung und Erziehung, wenn er das damals vorherrschende “Ideal der Härte” in den Schulen kritisiert, welches dort zu der Bereitschaft führe,„andere als amorphe Masse zu behandeln“. Diesen Status – das Fehlen zwischenmenschlicher Beziehungen – überspitzt Adorno effektiv mit folgender Aussage:

Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.

Theodor W. Adorno, 1970

Er merkt jedoch an, dass man die Liebe, oder eben Beziehungen, weder fordern noch institutionalisieren kann, denn das führe höchstens zur weiteren Negation derselben. Adorno erkennt hier eines der großen Probleme der Didaktik nach 1945, nämlich die Fokussierung auf den Inhalt und demnach die geringe Gewichtung der Beziehungsseite der Didaktik.

Natürlich mag Adornos Aussage übertrieben wirken; vielleicht wird nicht wirklich jeder einzelne Mensch zu wenig geliebt. Doch was wäre wenn wir diese Aussage ernst nähmen? Was genau können wir uns unter dieser Liebe, vor allem im schulischen Kontext, vorstellen? Es kann nun nicht jede Schülerin und jeder Schüler die Liebe (im Sinne der Fürsorge eines Erwachsenen für ein Kind) von ihren Lehrkräften aus erfahren – so viel emotionale Betreuung ist bei der normalen Ratio von Lehrkräften zu Schülerinnen und Schülern kaum möglich. Die Liebe ließe sich andernfalls interpretieren als Raum von Liebe, oder Raum ohne Hass und Negativität (statt als reine zwischenmenschliche Beziehung) den die Schule darstellt.

Dass dieser unabdingbar ist, hat uns die Schließung der Schulen im Laufe des “Lockdowns” gezeigt, die hervorhob, dass unsere Schulen nicht nur Bildung anbieten müssen, sondern unbedingt auch ein ‘sicherer Raum’ (aus dem engl. safe space) sein müssen: Ein soziales Zentrum, bestenfalls das soziale Zentrum der Schülerinnen und Schüler, wo sie sich ohne Angst ausleben können. Dies gilt sowohl für die Verantwortung gegenüber Kindern aus unsicheren oder gewaltgeprägten Lebenssituationen, als auch für alle anderen, deren Leben durch eine plötzliche Pandemie ins Chaos gestürzt wurde. Hier muss die Schule als institutioneller Raum ansetzen, der den Schülerinnen und Schülern geöffnet wird und nutzbar ist.

Im Unterricht befinden sich Schüler und Lehrkraft in einem Machtkomplex, in dem die Lehrkraft die Spitze der Hierarchie bildet. Doch die Schule als Raum entzieht sich dieser Relation teilweise, denn sie gehört sowohl der Schülerschaft als auch den Lehrkräften: Hier wird gearbeitet, gelernt, gespielt, getobt, Freunde werden gefunden und verloren und Menschen geformt.

In diesem Sinne sticht das Friedrich-Ebert-Gymnasium für mich besonders hervor. Abgesehen von dem Glück, als Praktikant eine Schule zu finden, an der man freundlich und mit offenen Armen aufgenommen wird, fand ich am FEG eine Schulgemeinschaft. Von der gesammelten Schüler*innenschaft, die beispiellos die Maskenpflicht erfüllt, um dem Infektionsgeschehen vorzubeugen und sich mit betroffenen Mitschüler*innen zu solidarisieren; der Energie und Arbeit, die bis zu der letzten Minute in einen coronakonformen Tag der offenen Tür gesteckt wurde, um dann alles absagen zumüssen; über Referendare und erfahrene Kollegen und Kolleginnen, die zusammen ein Philosophie-Café veranstalten; die Teilnahme im Namen der Schüler*innenschaft an Fridays for Future-Demos; bis hin zur Eingliederung internationaler Schüler und Schülerinnen in die Regelklassen und der regen Teilnahme der Schülerschaft an verschiedenen Fachkonferenzen.

Das FEG bietet hier etwas, was man an vielen Schulen vergeblich sucht: eine Gemeinschaft, die über die Lerngemeinschaft hinausgeht. Es sind nicht nur Angebote von Seiten der Schule, sondern die Mitgestaltung der Schülerschaft, die diesen gesellschaftlichen Raum so besonders macht.

Auch Adorno argumentierte damals für eine Loslösung von traditionellen Lehrplänen und Inhaltskanons; stattdessen müsse die Mitbestimmung der Schülerschaft gefördert werden. Dies wird in 2020 vom FEG weitergeführt mit der Frage “Was wäre wenn …?” als Aufhänger für Utopievorstellungen der Schülerschaft. Erst kürzlich wurden verschiedene großformatige Tafeln und ein zum Briefkasten umfunktionierter Karton aufgestellt, damit die Schüler ihre Ideen teilen und weitergeben können. Ich frage mich dieser Tage öfter, was wäre wenn jede Schule sich so viel Mühe machen würde, die Schülerschaft aktiv einzubeziehen? Keine Schule ist perfekt, aber der Versuch ist hier, was zählt.