meinungsstark.

Abiturrede 1990

  • von Axel Schmiegelow

„[…] vielleicht finden wir trotz des Vorganges wirtschaftlicher Interessen neue, schöpferische Kraft,um die globalen Probleme zu lösen, die unsere Erbschaft bilden.“

Liebe Menschen, bei dieser meiner Aufgabe, die mir ohne besondere Qualifikation aus Mangel an Alternativen anvertraut worden ist, war ich zerrissen zwischen Versöhnung und bescheidener Kritik; aus diesem Grunde habe ich beide ausgelassen. Haushoch überlegen und die gesamte weite Linie ihrer Zukunft zumindest ungefähr ahnend, verlässt eine neue Generation von Mitgliedern, einige sagen immer noch: Zahnrädern unserer Gesellschaft, das FEG … Das Urteil ist gefallen, die Reifeprüfung hat nach Reife geprüft und nunmehr werden für genießbar erklärte Früchte unserer geliebten Schule dem Markt überlassen, dem nicht mehr kommentarbedürftigen Wohnungsmarkt, dem Berufsmarkt, dem Gedankenmarkt, dem Wirtschaftsmarkt und (bei einigen) dem Uni-Markt. In den Fußstapfen der Älteren auf dem gesicherten Weg zur Existenzsicherung, wenn nicht sogar zum Erfolg, suchen Sie einen definierten und akzeptierten Platz in der großen „Menschenmaschine“ des Lebens – alle natürlich in der Gewissheit, „Es“ anders, besser zu „schaffen“ und doch anerkannt zu werden in einer reichen, heilen Welt …

Hoffen kann man nur, dass diese eben bescheinigte Reife nicht nur Fäulnis, die Schulfrucht sich nicht selbst trügerisch nach einer „schönsten Zeit des Lebens“, nach einer fröhlichen Zeit des Heranwachsens sehnen wird. Doch selbst dies wäre Teil des ewigen Zyklus, der den angeblich linearen Fortschritt der Menschen kennzeichnet. Und es hilft auch der Schrei nichts, der seit Jahren das triste Monument einer verschollenen 13 schmückt: „School is Xerox, You’re just a copy.“ Es ist eben kein Thema mehr, denn die Kinder der Revolution haben nun die Kinder des Wiederaufbaus ersetzt als Young Urban Professionals, als neues Bürgertum im kollektiven Akt der Gewissensberuhigung, nicht mehr mit Gott, sondern mit Kat und Vorwärts. Das Prinzip der eigenen moralischen Überlegenheit scheint eine menschliche Konstante zu sein. „Les salauds, c’est les Autres“, könnte man Sartre verbessern. Nein, das stromlinienförmige Heranzüchten eines bestimmten stillen Unkrauts ist der unbesiegbare „fait accompli“, der keine Verteidigungsmittel kennt, Unkraut vergeht bekanntlich nicht. Es ist der Preis einer, so wird behauptet, „leistungsstarken“ Gesellschaft. Wir wollen auch nicht im täglichen Spaziergang verworfener Ideale auf unsere ohnehin mitbegrenztem Erfolg schon durchtränkten Institutionen spucken. Der gegenwärtige Kompromiss hat auch seine Vorteile verglichen mit dem, was früher war. Zudem ist das FEG eine gute Schule … fürs Leben. Wer hier, wie woanders seine Ideale pragmatisch zurückzuschicken weiß, wer Politik und Charakter seiner Lehre abzuschätzen vermag, wird nicht als „nicht belehrbar“ beschimpft (Lehrer sind auch Menschen) und hat gute Startvoraussetzungen in der großen, weiten, harten Welt. „Shut up and be strong“ gilt nicht nur in amerikanischen Gettos–was natürlich nicht heißen soll, dass das FEG deren repressiven Charakter hat. Ich möchte mir aber eine Vermutung erlauben, bevor Sie die Existenzberechtigung dieser Rede im höflichen Applaus ersticken lassen: Vielleicht ist es trotz des allgemeinen Zynismus falsch, noch von einer Null-Bock-Generation zu reden. Vielleicht finden wir trotz Freud, der zu Entschuldigung für mangelnde Selbstkritik geworden ist, vielleicht finden wir trotz des Vorganges wirtschaftlicher Interessen neue, schöpferische Kraft, um die globalen Probleme zu lösen, unsere Erbschaft bilden. Und wenn wir uns nicht überwinden, wenn unsere Schuljahre doch nur den „Auftakt zur Apokalypse“ bildeten, dann kann jeder, in Übereinstimmung mit der allgemeinen Prioritätensetzung der sich selbst Verwirklichenden, bei Stendhal einen bezeichnenden Trost suchen: „Et je me dirais, comme Médée au milieu de tant be périls, il me reste moi“ („Ich habe ja noch mich“).

Es ziemt mir natürlich nicht, Moralapostel zu spielen, doch wenn der allgemeine Aufschrei einer hungernden und vergifteten Welt in den letzten Jahren eine Bedeutung hat, dann sollte sie derAppell sein, gerade an uns verwöhnte Kinder aus gesättigten Schichten, nicht unsere ideologischenVoraussetzungen für allgemeingültig zu halten, nicht [in] Dogmen jeglicherArt zu verfallen, nicht müdes Selbstinteresse zur gemütlichen, ständigen Geistesverfassung zu machen, vielmehr sollten wir es als eine Herausforderung ansehen, die nächsten 30 Jahre zum konkreten Beweis zu machen, dass Geschichte sich eben doch nicht auf immer höheren Ebenen wiederholt.

Aus: Jahresbericht 1990. Herausgegeben vom Verein der Freunde, Förderer und ehemaligen des FEG und dem Lehrerkollegium in Zusammenarbeit mit Schüler/innen und Eltern des FEG, Seite 56